Seize the Day ...
29. März, 2025 um 15:35 Uhr,
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von Stefan Weinert
Kaum eine Redewendung ist heute so abgedroschen, wie die des "Nutze den Tag", die der römische Dichter Horaz vor über 2.000 Jahren niederschrieb. CARPE DIEM heißt es im Lateinischen; jedoch die heute geläufige deutsche Übersetzungen „Nutze den Tag“ oder „Genieße den Tag“ treffen nicht ganz das, was im Original gemeint war. Schon die englische Übersetzung "seize the day" macht dies deutlich: ergreife den Tag. Denn im Kontext der horazischen Dichtung geht es genau darum. Der Mensch soll die Früchte und die Blumen des heutigen Tages - nicht die verwelkten von gestern, oder gar die ungewissen von Morgen - pflücken und sich an ihnen erfreuen respektive sie genießen. Es geht um das sinnliche Erleben der aus der Natur wurzelnden Augenblicks, gepaart mit der Einstellung einer einfachen, genügsamen aber doch genießenden und lustvollen Lebensweise; wobei dies auch eine Anspielung auf die Lust der Sexualität ist.
Als sich 350 Jahre später das Christentum im Römischen Reich ausbreitet hatte, stand Horaz mit seinem "Carpe diem" im schärfsten Kontrast mit der Sichtweise der römischen (!) Kirche. Wohlgemerkt: nicht mit der Lehre des Zimmermanns aus Nazareth. "Genieße den Tag" hatte und hat noch immer im Jenseits orientierten Christentum, im Grunde keinen Platz. Das Bewusstsein der Endlichkeit ist – kirchlich (!) verstanden – das Wissen um die größere Bedeutung des jenseitigen Lebens. Die Orientierung am Genuss, die im carpe diem liegt, birgt also aus kirchlicher Sicht die Gefahr, dieses jenseitige Leben zu verspielen. Wenn man/frau aber beim Lesen biblischer Texte genau hinschaut (hier vor allem die vier Evangelien) ist zu erkennen, dass der historische Jesus das "sowohl - als auch" betont.
Nehmen wir einmal jene Hochzeit heute: (Heimatfest), auf der nach schon kräftigem Feiern und einer "trunkenen" Gesellschaft, der Wein (Bier) ausging. Der kirchliche (!) Jesus, den es in Wirklichkeit nie gab und auch nicht gibt, hätte gesagt: Gut so, genug ist genug, seht es als Zeichen Gottes. Doch der biblische (!!) Jeshua ben Joseph von Nazareth packt im Gegenteil noch "einen" (besser sechs) drauf. Denn er ließ genau sechs Steinkrüge, von denen jeder gut hundert Liter fasste, mit frischem Quellwasser bringen, und verwandelt sie kurzerhand in den besten Wein. So steht's geschrieben (Johannes, Kapitel 2, Vers 1 ff) --- Andererseits aber sagt jener selbige Jesus später auch: "Glücklich (makarios) jene, die um der Gerechtigkeit Willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich der Himmel." (Matthäus, Kapitel 5 ab Vers 1)
Schauen wir uns einmal den Text, aus dem das CARPE DIEM stammt, im Zusammenhang an. Er wurde 23 vor unserer Zeitrechnung (23. v.Chr.) verfasst:
"Frage nicht (denn eine Antwort ist unmöglich), welches Ende die Götter mir, welches sie dir,
Leukonoe, zugedacht haben, und versuche dich nicht an den babylonischen [Wahrsagerinnen mit ihren] Berechnungen!
Wie viel besser ist es doch, was immer kommen wird, zu ertragen!
Ganz gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an widrige Klippen branden lässt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag (carpe diem), und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!" - Carmen I,11
Leukonoe, zugedacht haben, und versuche dich nicht an den babylonischen [Wahrsagerinnen mit ihren] Berechnungen!
Wie viel besser ist es doch, was immer kommen wird, zu ertragen!
Ganz gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an widrige Klippen branden lässt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag (carpe diem), und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!" - Carmen I,11
Nimmt man alle drei Texte (die beiden biblischen und den von Horaz), dann geht es sehr wohl um "Gott/Göttervertrauen", und um das genießende einfache Leben im "Hier und Jetzt", ohne aber dabei die (soziale) "Gerechtigkeit" zu vergessen --- und bitte nicht auf Kosten anderer. Gerade Letzteres scheint mir entscheidend zu sein: C A R P E D I E M !!